Frauen lesen anders

Saggio tratto da: Ruth Klüger, Frauen lesen anders, in Ead., “Frauen lesen anders”, DTV, München, 1996 (5^ed. 2007), p.83-104. Il testo apparve per la prima volta nel 1994 sotto il titolo 'Lesen Frauen anders?' nella collana “Heidelberger Universitätsreden” presso la C.F. Müller Verlag di Heidelberg e, a ottobre dello stesso anno, fu pubblicato nel numero 48 del settimanale Die Zeit.

 

Bücher wirken anders auf Frauen als auf Männer. Dies sollte kein heikles Thema sein. Doch fürchten Frauenrechtlerinnen, daß eine solche Behauptung den weiblichen Geschmack und die weibliche Denkfähigkeit in Frage stellt, und ihre Gegner fürchten einen weiteren Angriff auf den literarischen Kanon. Und doch: Längst haben wir von der Rezeptionsästhetik gelernt, daß das Wort, der Text, der Roman oder das Gedicht kein Ding an sich ist, dessen werkimmanenter Sinn sich den vertrauensvoll Lesenden bedingungslos erschließt und immer gleichbleibt. Jeder und jede von uns liest anders, wie kein Leben mit einem anderen identisch ist und sich jedermanns und jeder Frau Weltverständnis von jedem anderen unterscheidet.

Es ist uns eine Selbstverständlichkeit, daß wir einen japanischen Roman mit weniger Einfühlung lesen können als, sagen wir, Fontanes >Effi Briest<, wobei andererseits gerade das Exotische des japanischen Werks zum Lesevergnügen beiträgt. Der Einheimische liest mit weniger Erstaunen, dafür kritischer und genauer, also anders. So gibt es auch innerhalb derselben Kultur Differenzen, die das Leseverständnis beeinflussen, wie die zwischen den gesellschaftlichen Schichten oder Klassen, die sich in einer Demokratie allerdings immer mehr verwischen. Auffällig bleiben dagegen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sowohl die der Sozialisierung wie die biologischen. Wie sollte es denn anders sein, als daß Frauen und Männer, die weitgehend anders leben und mit anderen Erwartungen erzogen werden (ja, auch noch im Westen!)anders lesen?

Zwar gibt es rein sachliche Texte, die für beide Gesclechter dasselbe bedeuten. Fahrpläne, zum Beispiel.  Vor den Ankunfts- und Abfahrtstafeln der Bundesbahn wird der Mensch androgyn. Doch schon bei Gebrauchanweisungen treten die Unterschiede in Kraft. So werden die Anweisungen in Kochbüchern von den meisten Frauen lustvoller gelesen als die Anweisungen zum Wechseln eines Autoreifens. Das soll uns nicht zu dem Fehlschluß verführen, daß Frauen mehr essen als Männer und kaum Autofahren, sondern liegt daran, daß Frauen meinen, es würde ihnen eher gelingen, die Anweisungen des einen Handbuchs auszuführen als die des anderen. Die Ausnahmen bestätigen die Regel. Vor allem sind die Ausnahmen sehr selbstbewusst, angefangen mit denjenigen kleinen Mädchen, die lieber Chemieexperimente ausführen als Puppenkleider nähen, bis hin zu den erwachsenen Mechanikerinnen. Sie alle gehen anders, nähmlich mit diesem Ausnahmebewußtsein, an die Sache heran als ihre männlichen Spielkameraden, beziehungsweise Kollegen. Sie denken jetzt sicher, solche Verunsicherungen seien angelernt, und man könne die Leute umerziehen. Stimmt. Vom Umlernen soll im weiteren auch noch die Rede sein. Hier geht es vorerst darum, daß sogar sachliche Texte auf geschlechtsspezifische Reaktionen stoßen. Ich will jedoch vor allem von Literatur, von Belletristik, sprechen, von Texten, die sich auf Menschliches beziehen.

Eine solche Begrenzung der Belletristik aufs Menschliche ist anfechtbar, denn es gibt hochliterarische Texte, besonders in der Lyrik, die sich so sehr der Musik nähern, daß sich in ihnen die Sprache gewissermaßen verselbständigt und von den Realitätsbezügen entfernt, wie das ja auch in der abstrakten Malerei der fall ist. die Reaktion auf solche Texte ist wohl am wenigsten geschlechtsspezifisch.

Es gibt aber auch eine Literaturtheorie, derzufolge alle Literatur nur sprachbezogen ist, die einem historischen Roamn, der sich müht, die Vergangenheit zu interpretieren, un einem späten Gedicht von Celan dieselbe Behandlung angedeihen läßt und uns belächelt, wenn wir uns mit Inhalten auseinandersetzen. eine solche Literaturtheorie lehnt außerästhetische, zum Beispiel moralische , Überlegungen als nichtliterarisch und daher anzulässig ab. Besonders das Leserbedürfnis nach Identifizioerung in der erzählenden Prosa steht heutzutage nicht sonderlich hoch im Kurs und wird uns als eine kindliche Vorstufe des reifen, kritischen Lesens ausgelegt. Ich möchte aber vorschlagen, daß uns gerade dieses nur scheinber kindische Bedürfnis nie verläßt und uns auch nicht verlassen soll, obwohl es sich mit der komplexer und umfassender wird. denn sogennannte rein ästhetische Kriterien können auch ein Alibi sein, das einer vorherrschenden Lebensanschauung dient, zum Beispiel der männlichen, indem sie Inhalte, unter dem Deckmantel der künstlerischen Allgemeingüligkeit, einer weiteren Debatte einfach entziehen.

Dazu ein beispiel aus der bildenden Kunst, Fast jede große Kunstgalerie hat eine Gemälde aufzuweisen, das den >Raub der Sabinerinnen< darstellt. Und bei jeder Führung wie auch in den Katalogen heißt es, man möge die komposition bewundrn, den Farbkontrast würdigen. Nur: Wir blicken auf einen Gewatakt, von muskulösen Männern an halbnackten Frauen verübt, unwilligen Menschen, die von Stärkeren verschleppt werden. Ich höre zu, ich schaue hin, und ich frage mich betreten: Warum sagt niemand etwas zum inhalt? Ich weiß auch die Antwort: Weil der Raub und die Vergewaltigung zur mytisch-historischen Vorlage gehören und nur dazu da sind, damit der Maler sein Können demonstriere.

Als Frauen stehen wir vor diesem Prink und dieser Pracht, wo unseresgleichen zu Gegenständen erniedrigt wird, und verdrängen unsere Beklemmung, um unser Kunstverständnis nicht zu kompromittieren. Manchmal sind die Opfer so gemalt, daß sie ihre Erniedrigung zu genießen scheinen, eine Übertünchung, die die Sache noch verschlimmert. Nun will ich das Gemälde beleibe nicht aus der Galerie entfernen und möchte auch weiterhin öber seine technischen Vollkommenheiten belehrt werden; nur möchte ich außerdem die Inhaltsfrage stellen. Denn es liegt doch auf der hand, daß Männer und Frauen ein solches Sujet unterschiedlich betrachten, und wir hegen gerechte Zweifel, wenn die experten uns versichern, daß das Gemälde mit Machtanspruchüchen nur minimal zu tun habe.

Ähnlich verhält es sich mit der Darstellung von Gewaltakten und deren Rezeption in der Literatur. Der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 1992, George Taboti, sagte in seiner Dankrede, die schönstes Liebesgeschichten, die er kenne, seien >Othello< und >Woyzeck<.* Der einflußreichste deutsche Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, hat einmal im Fernsehen seine Vorliebe für »Liebesgeschichte« ›Kabale und Liebe‹ kundgetan. Wer will abstreiten, daß es sich bei allen dreien der genannten Dramen um Meisterwerke der Literatur handelt? Wie denn anders, wenn Shakespeare, Büchner und Schiler die Autoren sind? Aber die schönsten Liebesgeschichten? So würde eine Frau sie auf Anhieb kaum nennen. Wird doch in jeder von ihnen die geliebte vom Geliebten umgebracht, und zwar auf recht brutale Weise, erdrosselt von Othello, erstochen von Woyzeck, vergiftet bei Schiller.

Wenn ich sagen wollte, die schönsten Liebesgeschichten, die ich kenne, seien Kleists ›Penthesilea‹, wo die Titelheldin ihren geliebten Achilles zerfleischt, als Ersatz für den Liebesakt, und Hebbels ›Judith‹, in der die Titelheldin dem Holofernes nach dem Liebesakt den Kopf abschlägt: Würde ein männlicher Leser nicht mit Recht meine Bezeichnung dieser Faszinosa als schöne Liebesgeschichten mit Beunruhigung aufnehmen?

Was geht hier vor? Die Verherrlichung oder Verharmlosung der Gewalt gegen Frauen in der Literatur beginnt früh, zum Beispiel mit dem ›Heiderröslein‹. Man sollte meinen, daß sich die symbolische Darstellung einer brutalen Vergewaltigung, vertont oder unvertont, nicht zum Schulunterricht eigne und schon gar nicht auf eine Stufe mit wirklichen Liebesliedern gesetzt werden solle. Denn Goethe hin, Schubert her, die letzte Stophe ist eine nur leicht verbrämte Terrorszene:

Doch der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden.
Röselein wehrte sich und stach
half ihm doch kein Weh und Ach
Mußt' es eben leiden.

Die verharmlosung entsteht dadurch, daß der Vergewaltiger, also ein ausgewachsener, zumindest geschlechtsreifer Mann, als »wilder Knabe« einherkommt, daß die Tat symbolisch an einer Blume ausgeführt wird, obwohl deutlich Kraftmeier und schwächeres Mädchen gemeint sind, und daß im hingeträllerten Refrain

Röslein, Röslein, Röslein rot
Röslein auf der Heiden.

der Terror verplätschert.* Das Lied ist verlogen, weil es ein Verbrechen als unvermeidlich und obendrein wie eine Liebesszene darstellt. Helke sander hat in ihrem - umstrittenen- Dokumentarfilm ›(Be)Freier und Befreite‹ einen Männerchor eingesetzt, der das »Heiderröslein«, kommentarlos und unmißverständlich, im Kontext der Massenvergewaltigungen des Zweiten Weltkriegs singt. damit ein Mädchen oder eine Frau ein solches Lied hübsch findet, muß sie mehr von ihrem menschlichen Selbstbewußtsein verdrängen, als sich lohnt, von ihren erotischen Bedürfnissen ganz zu schweigen.

Wie lernen wir lesen? Die ersten Kinderbücher sind ziemlich geschlechtsneutral und handeln von hunden und Katzen und der Entdeckung der gegenstänlichen und natürlichen Welt. Alle Kinder lieben Puh den Bären und Bambi das Reh. Je mehr sie sich der Pubertät nähern, je mehr sich also ihre rotik entwickelt, desto mehr scheiden sich die Geister in männlich und weiblich. Dabei drängt sich die Frage auf, was daran anerzogen und was angeboren, also biologisch bedingt ist. Beim jetzigen Stand unserer Gesselschaft, in der Mädchen und Jungen unterschiedlich, also auch mit einem anderen Erwartungshorizont, erzogen werden, können wir nichts Bestimmtes überdie Unterschiede ihrer natürlichen Veranlagungen aussagen, sondern nur daran herumrätseln.

Fest steht: Es gibt eine Mädchen- und eine Jugendliteratur. Sie ist nicht streng und absolut geschieden, doch lesen Mädchen eher Jungenbücher als umgekehrt. Ein grund dafür ist sicher die Sozialisierung. Jungen werden eher von ihren Altersgenossen verspottet, wenn sie ›Pippi Langestrumpf‹ oder  ›Heidi‹ lesen, während Mädchen es sich erlauben können, mit einem Band Karl May in der Hand gesehen zu werden. dazu kommen in den vergangenen zwei Jahrzehnten, in Amerika wie in Deutschland, Romane, die sich ausdrücklich mit den Problemen heranwachsender Mädchen beschäftigen, also von vornherein einen ausschließlich weiblichen markt anvisieren, was natürlich weder für noch gegen die Qualität dieser Werke spricht.

Der zweite Grund, dem ersten verwandt, ist, daß wir Frauen früh so lesen lernen wie das andere Geschlecht, auch dann wenn die Lehrer, angefangen mit der Mutter, Lehrerinnen, also selbst Frauen sind. In der von Frauen überlieferten Literatur, den mündlich erzählten Märchen, die sich ja auch die Brüder Grimm von einer Frau, Dorothea Viemann, hersagen ließen, spielen die Mädchen eine relativ aktive Rolle. In den Schulen hat man erst in den letzten Jahren angefangen, ein wenig Rücksicht auf die Entwicklung des Selbstvertrauens der Schülerinnen zu nehmen. Im Grunde lernen sie noch immer so lesen, wie Männer lesen. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig. Von Caesars ›Gallischem Krieg‹ bis zu Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ und Grass' ›Katz und Maus‹ bestimmt männliches Handeln und Denken, männliche Erotik und männlicher Ehrgeiz, was als klassisches Lesematerial, von der ersten Lateinstunde bis zum germanistischen Oberseminar, in Frage kommt. Dabei ist der hartnäckigen  Phallozentrismus der eben genannten Werke so augenfällig, daß man sich sofort fragen müßte, was Schülerinnen und Studentinnen damit anfangen können. Sicher weniger als die männlichen Leser. Statt dessen setzt man meist stillschwegend voraus, es sei eine Zeitverschwendung für Jungen, so zu denken, wie ein Mädchen denkt, während es als selbstverständlich gilt, daß Frauen sich anpassen. (Jetzt fragen sich sicher einige von Ihnen, was es denn zum Beispiel im Lateinischen gäbe, das man an die Stelle der martialischen Texte setzen könnte. Genau diese Reflexion ist wünschenswert. Es gibt natürlich Texte, die sogar für beide Geschlechter ansprechender sind als die erwähnten, im Lateinischen von Männern geschriebene, im Deutcshen auch von Faruen geschriebene.) Die Frage, wo man das Lesematerial herbekommen soll, stellt den Kanon in Farge. Welche Schriften werden als mustergültig anerkannt und auf welcher Basis? Der »status quo« ändert sich nur langsam und verlangt von den Jungen nicht, daß sie sich der Anstrengung unterziehen, die für Mädchen eine Gegebenheit ist, nämlich den Standpunkt des anderen Geschlechts nachzuvollziehen. Was für Mädchen als Bereicherung gilt, ist für Jungen eine Zumutung und wäre doch, wenn man es nur einsehen wollte, auch für sie eine Bereicherung.

Der Mensch ist lernfähig. Wir Frauen lernen lesen, wie die Männer lesen. Es ist nicht so schwer. Die interessanten Menschen in den Büchern, die als wertvoll gelten, sind männliche Helden. Wir identifizieren uns mit ihnen und klopfen beim Lesen jede Frauengestalt auf ihr Identifikatiosangebot ab, um sie meist seufzend links liegenzulassen. Denn wer will schon ein verführtes Mädchen oder ein verführendes Machtweib oder eine selbstmörderische Ehebrecherin oder ein puppenhaftes Lustobjekt sein? Höhenflüge und Abenteuer wollen wir und widmen uns dementsprechend den Männergestalten, denen wir das allgemein Menschliche abgewinnen. Wir werden dadurch aufmerksame Leserinnen, während die meisten männlichen Leser oft wenig anfangen können mit Büchern, die von Frauen geschrieben sind und in denen Frauen die Hauptrolle spielen.

Sie eraluben eine persönliche Anedokte. Vor zwei Jahren veröffentlichte ich eine Autobiographie, in der ich dieses Problem ansprach. Ich hielt mein Buch ganz unbefangen für ein Frauenbuch, das heiÊt, ich stellte in Rechnung, daß mehr Frauen als Männer es lesen würden, schon darum, weil Männer selten Bücher von und über Frauen lesen. das Buch wurde zwar ein weitaus größeres Erfolg, als ich voraussehen konnte, doch ich hatte recht: Der Großteil meines Publikums ist weiblich.*Ich weiß das von Buchhändlern, Leserbriefen und Lesungen. Ich bin damit zufrieden, warum auch nicht? Nun muß man wissen: Das Buch hat einen feministischen grundzug, und man findet darin die schwersten Vorwürfe gegen das Patriarchat. Die haben meine männlichen Leser ohne Murren geschluckt. Die Gräte, die vielen im Hals stecken blieb, ist dagegen ein Satz, in dem ich mich an Leserinnen wende - und zwar ohne das heute übliche große »I« in der Mitte des Worts-, in dem ich mich also nur an Frauen wende und dann in Klammern hinzufüge: »wer rechnet schon mit männlichen Lesern? Die lesen nur von anderen Männern Geschriebenes.«* Wie gesagt, steht in meinem Buch einiges, worauf ich Widerspruch erwartete. Zum Beispiel behaupte ich, daß Frauen mehr über Gut und Böse wissen als Männer, die das Gute oft trivialisieren und das Böse dämonisieren. auf diese immerhin gewagten Scherze hat mich bis jetzt kaum jemand angesprochen. Doch fast jeder Mann, der das Buch glesen hat, trägt sich mir als Widerlegung meiner hingeworfenen und relativ harmlosen Bemerkung über mein vermutliches Lesepublikum an, und zwar mit Vehemenz. Sie wird als beleidigend und ungerecht empfunden, weil sie davon ausgeht, daß die Auswahl der Bücher, die man liest, nicht nur mit ihrer literarischen Qualität, sondern auch mit der sozialen Einordnung der jeweiligen autoren zu tun hat. meine Bemerkung setzte voraus, daß Bücher von Frauen oft trivial und unseriös abgetan werden, noch bevor man sie gelesen hat. Das Qualitätsurteil kommt erst in zweiter Linie, ist also ein Vorurteil. Ähnlich entscheidet eine männliche Zuordnung, daß Männerfreundcshaften Bündnisse, Frauenfreundschaften Kaffeekränzchen sind und beurteilt die literarischen Verwertungen solcher beziehungen dementsprechend. Die Tatsache, daß es diese Normierung gibt, die männlich gleich meschlich setzt und Frauen nur las Mitläufer anerkennt, ist selten strittig. Doch indem ich diese Tatsache aussprach, habe ich ihre Allgemeingültigkeit verworfen und, da ich zufriden schien mit einem vorwiegend weiblichen Publikum, hatte ich noch obendrein die Überlegenheit des männlichen Lesepublikums in Farge gestellt. Anders kann ich mir die Entrüstung, der ich begegnete, nicht erklären.

Ralph Ellison, der berühmte, jüngst verstorbene amerikanicshe schwarze Autor des Romans ›Invisible Man‹ schrieb einmal, er habe als Junge Mark Twains Roman ›Die Abenteuer des Huckleberry Finn‹ selbstverständlich vom Standpunkt des weißen Ich-Erzählers Huck und nicht etwa vom Standpunkt des entlaufenen Sklaven Nigger Jim rezipiert. Denn dieser ist eine reduzierte, etwas schlotternde Nebengestalt, von der man sich nicht inspirieren lassen kann, und jener, der Weiße, ist der Held und Abenteurer. Ähnlich interessiert sich die Leserin für Hamlets Konfrontationes mit dem Tod und den Eltern, für Fausts Zweifel und Versuchungen, aber nur mit leisem (oder auch mit tiefem) Unbehagen für Gretchens und ophelias Hingabe, für Tod und Wahnsinn dieser beiden. Dieses Unbehagen, das Ellison vielleicht auch bei der darstellung des Nigger Jim gesürt hat, diese Sippschaft mit den erwähnten Frauengestalten, die durch und für ihre Männer früh und grausam sterben müssen, dieses Unbehagen fehlt bei männlichen Lesern, die solche Frauengestalten eher als Selbstbestätigung hinnehmen, ihnen die Herablassung des Mitleids angedeihen lassen und sie daher gerne mögen.

Wir, die gelernt haben, wie Männer zu lesen, unterdrücken das Unbehagen, denn wir wissen nicht recht, wohin damit. eigentlich wollen wir sagen: »Wir sind nicht so, und es geht auch anders.« In Wirklichkeit sagen wir oft: »Wir fühlen uns in die Helden ein, also sind wir wie sie« - und wissen doch, wir sind's nicht. Vor allem lernen wir, die Verachtung, mit der weibliche Gestalten in der Literatur oft gebranmarkt sind (es fängt mit solchen Redewendungen an, wie »ein hübsches Ding«), nicht als solche zu kritisieren. Uns das halte ich für einen Fehler, denn die Auseinandersetzung mit Irritationen ist heilsamer als das passive Hinnehmen.

Ja, aber, denken Sie jetzt, große Literatur handelt doch vom allgemein Menchlichen, an dem beide Geschlechter teilhaben. Und Ähnliches hätte ich doch selbst gerade im Zusammenhang mit hamlet und Faust gesagt, bevor ich die implizite gleichsetzung von »menschlich« mit  »männlich« kritisierte. In richtigem und schönem deutsch sind Faruen una Männer gleichermaßen Mensch, während es im Englicshen wie im Französischen nur ein Wort für beides, Mensch und Mann. Als in Schillers ›An die Freude‹ als Zehnjährige las, fühlte ich mich ausgeschlossen gerade von den Versen, bei denen sich alle miteingeschlossen fühlen sollen. Da hieß es zunächst:  »Alle Menschen werden Brüder.« Eigentlich, so dachte ich sollte es  »Geschwister« heißen, wenn auch Frauen gemeint sind. Doch entschuldige ich den Dichter: Auf  »Geschwister« findet sich nicht so leicht ein Reimwort,  »Geschwister« ist unpoetisch, also gut,  »Brüder«. Doch dann las ich:

Wem der große Wurf gelungen
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen
Mische seinen Jubel ein.    

Ich dachte, zur Not könnte es mir ja in ferner Zukunft gelingen, ein holdes Weib zu werden, wiewohl mir diese Aussicht als nicht eindeutig erstrebenswert erschien. Da ich naturgemäß nie in der Lage sein würde, ein solches, nähmlich ein holdes Weib, zu erringen, würde ich bestenfalls einen Mann zum Jubeln veranlassen, doch selber mitzujubeln schien mir der Dichter zu versagen. und das in seiner menschheitsumfassenden Versöhnungshymne. Ein mensch konnte ich offernsichtlich nicht sein, nur eines Menschen Weib. Später lernte ich, eine solche Reaktion auf ein großes gedicht sei kindisch. ich mußte alt werden, um ihre spontane Richtigkeit zu erkennen.

Eine Ehrenrettung von Schiller ist hier dennoch am Platz. In meiner Zunft der Germanisten ist es ein Gemeinplatz zu behaupten, Schiller hätte nichts von Frauen verstanden. Man sagt das, als seien Frauen eine Tierart, mit der man enteweder ungehen kann oder nicht, und obwohl manche Hauptgestalten von Schillers großen Dramen weibliche Helden sind. Der Widerspruch erklärt sich daher, daß Schiller seine eindrucksvollsten Frauen als Menschen darstellt, die nebenbei auch Frauen sind. Also Leute, die nicht unentwegt, sondern nur manchmal. sich aus ihren Liebesbeziehungen heraus definieren, Menschen, die auch sonst ein Verhältnis zu Gott, zu Gedanken, zu Idealen haben. (Darum sagte ich auch absichlich  »weibliche Helden«  und nicht  »Heldinnen«, zur Unterscheidung zwischen Frauenrollen, die von den größeren Männerrollen abhängig sind und solchen, die ein unabhägiges Interesse vom Publikum beanspruchen.) Das ist in der deutschen Literatur so ungewöhnlich, daß man es als unweiblich empfindet. richtig ist nur, daß Schillers Liebesszenen nicht gerade hinreißend sind, aber es geht ja um Frauen, die nur nebenbei Liebesobjekte sind oder sich solche wählen. man macht sich auch gerne lustig über Textstellen, wo Schiller das Unabhängigkeitsbedürfnis von Frauen auf eine, scheint mir, ganz moderne Weise anspricht, zum Beispiel in dem oft und zu Unrecht verhöhnten Ende von ›Wilhelm Tell‹. Da wählt eine junge Adelige ohne Vermittlung von eltern oder Vormund ihren Zukünftigen mit den Worten:

So reich' ich diesem Jüngling meine Rechte,
Die freie Schweizerin dem freien Mann.

Und er darauf:

Und frei erklär' ich alle meine Knechte.

Die  »freie Schweizerin« hat es den Spöttern angetan. Doch der Sinn dieser Zusammenstellung von der aufgehobenen Leibeigenschaft und den gleichwertigen Ehepartnern ist doch wohl die Botschaft, daß die Ehe zwar eine Sklaverei für die Frau sein kann, es aber nicht sein muß. Ein moderner Ansatz von diesem intellektuellsten unserer Klassiker. Ich lese es, fühle mich dazugehörig, werde sozusagen zur Schweizerin, aus Sympathie, wie Kennedy Berliner wurde.

In der Lichtenberg-Stadt Göttingen hörte ich einaml einen vorzüglichen Vortrag über die Vernunft bei Lichtenberg und die Denkmodelle und Zweifelsangebote des großen Aphorisyten. Nun kam der Vortragende an eine Stelle, wo er darlegte, daß Lichtenberg seine Köchin so ziemlich als das niedrigste Vernunftwesen in Göttingen einstufte. Der Redner spekulierte noch, ob es sich um eine ganz besonders schöne Köchin gehandelt haben könne und ging dann zu anderen Vernunftwesen über, mit denen ich, die bis dahin mit Zustimmung und Einfühlung aufmerksam zugehört hatte, mich nicht mehr ebenbürtig fühlte. Denn die Geschichte mit der Köchin war die einzige Erwähnung einer Frau in diesem Vortrag gewesen, und ich gehöre nun einmal zum Geschlechte der Köchin, die auf der untersten Stufe in der Hierarchie der Geister stand, Daß Lichtenberg das weibliche Geschlecht so unterschätzt hat, muß man hinnehmen, doch wenn man heute davon spricht, so sollte man, meine ich, Lichtenbergs Einstellung thematisieren und problematisieren.* Der Kollege tat das gegenteil, durch den ablenkenden Hinweis auf uhr Aussehen. Hätte es sich um Juden, also um Lichtenbergs erwiesenen Antisemitismus, gehandelt, so hätte er feinfühliger reagiert, und ich als Frau trifft mich genauso wie eine Herabsetzung als Jüdin, ob sie nun auf der Straße, in der Literatur oder in der von Kollegen verfaßten Sekundärlitartur stattfinden. Das um so mehr, als ich im heutigen Deutschland viel eher dem einen als dem anderen ausgesetzt bin.

Spät habe ich gelernt, mir meine Betroffenheit als Frau beim Lesen und Zuhören einzugestehen. Das heißt nicht, daß ich alle Litaratur, die nach Frauenfeindlichkeitschmeckt, ablehne. Das kann ich mir nicht leisten. Im Gegenteil: meistens finde ich mich damit ab, denn, ähnlich wie beim Antisemitismus, würde ich mir zuviel entgehen lassen, wollte ich alle Werke beiseite schieben, in denen über Juden, beziehungsweise Frauen, geringschätzig geurteilt wird. Nur nehme ich nicht mehr kritiklos hin, was der Kritik bedarf.

Zwar lernen lesefreudige Frauen wie Minderheiten früh und schnell die Distanz zu überbrücken, die ihre eigene Lebenserfahrung von der des weißen, christlichen, männlichen Autors trennt; doch bleibt es immere ein Sprung, ein energieaufwand, den Männer so nicht machen müssen.

Nur zufällig, aber dann aufatmend, kommen wir an Bücher heran, in denen Frauen, abgesehen von der Jugend- und der Trivialliteratur (die ich natürlich keineswegs gleichsetze), nicht nur die Rolle spielen, die ihnen im Leben der Männer zukommt, sondern die Rolle, die sie in ihren eigenen Leben spielen. Dann erst merken wir, wieviel leichter eine solche Lektüre ist, wieviel direkter und ursprünglicher man damit umgehen kann, wenn man diesen erwähnten Sprung der Anpassung und Einfühlung nicht nötig hat. Wo die geistige Entwicklung der studierenden Frauen nicht ergänzt wird durch Primär- una Sekundärliteratur, die dem eigenen Wesen und den eigenen Lebensumständen entspringt oder entspricht, da werden die männlichen Kommilitonen und Kollegen einen Vorsprung, nähmlich den direkteren Zugang zu den Texten, haben. Und die Studentinnen laufen Gefahr, in ihrem kritischen Denken entweder zaghaft oder exzentrisch zu werden.

Da man die Einfühlung in den männlichen roblemkreis Leserinnen als eine Tugend anrechnet, jedoch das Umgekehrte von Lesern nur selten erwartet, der literarische Kanon aber das Werk von Männern ist, so werden selbst angesehene Schriftstellerinnen, über deren Kompetetenz kein Zweifel herrscht, an Schulen und Universitäten nur beschränkt rezipiert. Der Kampf um den Kanon dauert ja nun schon einige Jahre, aber er ist noch lange nicht ausgekämpft. Sprechen Sie einmal gebildete deutsche Leser darauf an, Ihnen drei oder vier gedichte von Droste-Hülshoff auf Anhieb zu nennen. Von Christa Wolfs ›Kindheitsmuster‹ hat hierzulande jeder gehört, und es hat auf ein großes weibliches Lesepublikum, zu dem ich mich übrigens rechne, eine außerordentliche Tiefenwirkung gehabt. Um so meht erstaunt es, wie wenige romanlesende Männer das Buch wirklich kennen. (Das kam übrigens ganz deutlich in der öffentlichen Debatte um Wolfs Novelle ›Was bleibt‹ zum Ausdruck.) Das kommt zum Teil daher, daß Männer der Kindheitsvorstellung, es sei unmännlich,  »Mädchenbücher« zu lesen, nicht ganz entwachsen. Die Autorität der schreibenden Frau wird angezweifelt, bewußt oder unbewußt. (Ein Autor maßt sich ja ipso facto  seinen Lesern gegenüber Autorität an.) In Amerika wurde einmal durch ein Experiment festgestellt (was wir sowieso schon durch Lebenserfahrung wußten), daßInformationen, die von Männern ausgehen, mehr Glauben geschenkt wird als denselben Fakten, wenn Frauen sie vermitteln. Ich beobachte gern, mit was für Büchern man sich in der Öffentlichkeit sehen läßt und merke im Zug, im Flugzeug, am Strand: Frauen lesen die verschiedensten Lektüre, Bücher von Frauen oder von Männern. Männer lesen Science-Fiction oder die Memoiren von Staatsmännern.

Es bleibt die Frage, inwiefern die Unterschiede in unseren Lesegewohnheiten auf die natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen, also sozusagen unüberbrückbar oder nur teils überbrückbar, sind. Weit mehr als in der hohen Literatur klaffen in der Jugend- und Unterhaltungsliteratur die Interessen von weiblich und männlich auseinander. Und zwar so sehr, daß ich vermute, selbst bei völliger Gleichstellung und Gleichberechtigung würden Frauen und Männer noch immer anders und Anderes lesen. In beiden Fällen, Trivial- wie Jugendliteratur, werden die Unterschiede vom Buchhandel, Verlagswesen und der Kritik ganz unbefangen wahrgenommen, und der Markt konzentriert sich dementsprechend. Liebesgeschichten für pubertierenden Mädchen, das ist klar, weniger klar ist die Vorliebe von präpubertären Mädchen für Pferdebücher, der Nachfrage wird auf jeden Fall abgeholfen, psycho-theoretische Überlegungen sind unnötig, der Markt ist pragmatisch. Bei der Trivialliteratur von Erwachsenen liegen die Marktverhältnissen ebenfalls deutlich zutage und sind ebenfalls, wie bei der rätselhaften Pferdelektüre der 12jährigen, in ihren Motiven nicht immer durchschaubar. Bücher über Krieg und Kontaktsport werden hauptsächlich für Männer geschrieben. Klar. Interessanter ist der Fall von Science-Fiction, eine literarische Gattung, die nicht unbedingt trivial sein muß und die auch Frauen lesen und schreiben, aber dann meist als Utopien und Dystopien, also Bücher, die von gelungenem oder mißlichem menschlichem Zusammenleben handeln. In der von Männern bevorzugten Variante dieses Genres spielen Maschinen und Erfindugen eine Hauptrolle, und die meisten Leserinnen finden solche Bücher zum Weinen langweilig. Ob diese Vorliebe nur anerzogen ist? Oder stoßen wir hier auf einen echten Unterschied? Jedenfalls weiß der Buchhandel genau Bescheid wie aus den Werbetaktiken hervorgeht, auch wenn die Ursachen im Dunkel bleiben. *Doch die Kritik der höheren Literatur und die traditionelle Literaturwissenschaft schießen die Augen vor den Einsichten des Buchmarktes und setzen einen geschlechtlosen idealen Leser voraus, der sich bei näherem HInsehen immer als Mann entpuppt. Wie ich zu Anfang erwähnte, hat zwar die Rezeptionstheorie mit solchen Vorstellungen der Unvoreingenommenheit weitgehend aufgeräumt. Doch bleibt die weibliche Sicht klassischer Literaturwerke, soweit Leserinnen sich überhaupt genügend emanzipiert haben, um eine solche Sicht zu entwickeln, noch immer untergeordnet und wird von der etablierten, das heißt also männlichen Kritik, kaum wahrgenommen. Anders gesagt, feministische Theorie und Kritik ist bis jetzt kein Pflichtfach geworden, auch in Amerika nicht.

Die Inhaltsfrage, die uns bislang vor allem beschäftigt hat, bekommt starken gegenwind, der ausgerechnet von der Diskussion, die sich um Pornographie entsponnen hat, herüberweht. Pornographie ist die literarische Form, wo die biologische Verschiedenheit der Geschlechter am ehesten zur Geltung kommen müßte, da sie ja diejenige Literatur ist, die Körperlichkeit am stäsrksten betont. Pornographie wird daher unter allen Umständen von Männern und Frauen immer anders gelesen werden. Sie ist der Extremfall. In den Reaktionen auf die drastischen erotischen Phantasien, die diese Gattung ausmachen, sollten am deutlichsten unterschiedliche Leseweisen erkennbar werden. Doch sind die reaktionen nirgends so verworren wie gerade hier.

Diese ebenso verpönte, manchmal verbotene wie weitverbreitete und gern gelesene Lektüre entfacht heute die heftigsten Streitgespräche. gerade hier, wo das Lesevergnügen auf die Befriedigung persönlichster Wünche beschränkt sein soll, schlägt das Interesse um, und die Debatte um diese Privatissima wird hoch politisch.

Der Diskurs der Postmoderne betont gern den emanzipatorischen Aspekt der Pornographie. Es heißt dann, es handele sich um eine Erzählkunst, die sich nicht nur über moralisch-bürgerliche Sittsamkeiten hinwegsetzt, sondern auch weitgehend die überlieferten Erzählstrukturen überschreitet und somit den dekonstruktivistischen Anliegen der sprachlichen Neurer in der Literatur gute Dienste leistet. das Schlüsselwort in dieser Debatte ist »Transgression« - Verstoß, Überschreitung - zusammen mit der Auflösung des Einzelmenschen in seine, meist körperlichen, Funktionen.* Aus solcher Sicht schiebr man die wirklichheitsbezogenen Aspekte der Pornographie beiseite und behandelt die im konventionelle Sinne anstößigen Szenen als Metaphern für eine abstraktere, vor allem sprachliche, Befreiung.(Also Sex als Metapher für Sprache, nicht umgekehrt.) das funktioniert besser in Literaturen, die eine ausgebildete literarische Tradition von sogenannten Erotika haben, wie die französische, vom Marquis de Sade bis zu Georges Bataille, der heute viel von sich reden macht. Im Deutschen gibt es diese Tradition nicht oder kaum (eine Ausnahme wäre etwa Friedrich Schlegels ›Lucinde‹), oder eben nur auf der trivialsten Ebene, als Schund. Der Marquis de Sade erscheint aber auch in einem deutschen Stück, nähmlich in Peter Weiss' berühmten Drama, das seinen Namen zusammen mit dem des Revolutionärs Marat trägt, als der Inbegriff einer bestimmten Art von erntzunehmendem Radikalismus. Das ist nicht schwer einzusehen, wenn wir einen Roman von Sade als sprachliche Äußerung mit dem schon erwähnten ›Heideröslein‹ vergleichen, wobei Goethe/Schubert in einer prononziert traditionellen Form die Gewalttätigkeit des Inhalts bis zur Salonfähigkeit kaschieren. Sade hingehen, oder auch Henry Miller, versetzen uns einen Schock nach dem anderen, und wir müssen sehen, wie wir damit fertig werden. Wir werden damit fertig, wenn wir die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit, zwischen Identifikation und der durch die Kunst (oder zumindest Künstlichkeit) des Werks vermittelten Distanz einhalten können. Wie wir sie übrigens bei jedem Theaterbesuch einhalten. Der gespielte Tod rührt uns, der wirkliche Tod eines Schauspielers auf der Bühne würde uns entsetzen. Ich meine aber, die Grenze ist fließend, und diejenigen, die vor den möglichen Schäden einer allzu intensiven darstellung von Gewälttätigkeiten warnen, haben so unrecht nicht. Es bleibt ein Problem, das sich nicht übers Knie brechen läßt und sowohl ästhetische wie moralische Aspekte aufweist.

Wir sind auf Umwegen zu dem Museumführer des Anfangs zurückgekehrt, der uns ein Gemälde, den 'Raub der Sabinerinnen' darstellend, mit technischen Termini der malkunst erklärt. Diejenigen Kritiker, die das radikale und daher avantgardistische Moment der Pornographie betonen, übersehen oder ignorieren das Gefühl von Geführdung, das Leserinnen bei Texten und Bildern überfällt , die - fast immer- die Verdinglichung, wenn  nicht die verletzung, des weiblichen Körpers zum Thema haben. Nun kann allerdings einem solchen Unbehagen ein eroticsher reiz innewohnen, der auch Frauen gefällt. 'Der Raub der Sabinerinnen' kann masochistische ebenso wie sadistische Phantasien, und alles, was dazwischenliegen mag, befriedigen. Der mythologische Rahmen ermöglicht dann das lustvolle Schauen, das dem entesetzen Platz machen müßte, wäre die Szene unserer Gegenwart entnommen, etwa eine Illustration der Tagesnachrichten. Damit sind wir bei der umstrittenen Frage, ob es überhaupt eine weibliche Pornographie geben kann. In der Frauenbewegung gibt es Stimmen, die diese Möglichkeit einfach verneinen; und es gibt andere, die Erotika für Faruen generell befürworten und sie auch schreiben wollen. In beiden Füllen ist das Interesse politisch, im Sinne von frauenemanzipatorisch. Pornographie wird heute von konservativer wie von progressiver Seite sowohl angegriffen wie verteidigt: als unsittlich verurteilt wie schon immer, aber heute auch als Anreiz zur gewalt gegen Frauen verworfen; al Befreiung durch Phantasie bestätigt und gegen eventuelle Einschränkungen der Preseefreiheit in Schutz genommen.

Das Paradoxe an dieser Politisierung der Porno-Debatte ist, daß Verallgemeinerungen über die Wirkung dieser Schriften (oder meinetwegen auch Filme) so schwer sind. Pornolesen ist das subjektiviste, privateste aller aestetischen Vergnügen. Wenn jemand sagt, ein gewisses Pornobuch langweile ihn, oder sämtliche Pornofilme langweilen sie, so meint er/sie etwas anderes als die Aussage, Stifters 'Nachsommer' sei streckenweise langweilig. Im letzteren Fall darf man annehmen, daß die ausführliche beschreibung einer idyllischen Berg- oder Gartenlandschaft mehr Handlungsdynamik wünschenswert macht; im ersteren Falle meint der leser schlicht, daß die beschriebene Szene ihn oder sie persönlich nicht erregt. Dem gelangweilten Stifterleser kann ich die Schönheit des buchs näherbringer will, kann ich nur sagen: Das funktioniert für dich und nicht für mich.

Die heutige Pornographiedebatte schleppt den ganzen Ballast des sozialen Mißverhältnissen zwischen Frauen und Männern mit sich herum, ganz zu schweigen von einem Kulturpessimismus, der darin nur Zeichen von Dekadenz und Verderbtheit wahrnimmt. Daher erlaubt sie auch keine Schlüsse, die zu unserem Thema mehr beitragen als ein weiteres, entschiedenes Ja, Frauen lesen anders. Doch meine ich, daß sich gerade in der geschlechtsspezifischen beschränkheit dieser texte und der Debatten, die sie entzünden, die Konturen eritischen lesens abzeichnen, die auch in unserem Umgang mit der höheren Literatur eine nicht geringe Rolle spielen. Wir wissen spätestens seit Sigmund Freud, daß Lesen nicht nur Nachvollzug, sondern ktreativ ist. Wenn es stimmt, daß wir auch erwachsene und erfahrene Leser und Leserinnen dem Identifikationsprinzip nie entgehen, so ist der Kern oder auch der Gott eines solchen engagierten lesens der Eros. Da überschneidet und scheidet sich männlich und weiblich und wird es, so meine ich, auch bei fortschreitender Gleichheit der sozialen Rollen tun. da liegen die Unterschiede, die bleiben, wenn wir die unnötigen Unterschiede in der Erziehung der Geschlechter überwunden haben, was indessen noch lange dauern wird. Und inzwischen müssen wir diese Unterschiede besser kennenlernen, um ihnen in unserer Ästhetik  gerecht zu werden.

Und so ist vielleicht auch der titel dieses Aufsatzes falsch. denn er unterstellt ja die Richtigkeit männlicher Normierung; er unterstellt, daß noch immer das Heiligtum der Freude, das bei Schiller alle Menschen umfaßte, doch ein Rotarierklub von 'Brüdern' ist, ind em Frauen nur als von Männern errungene 'holde Weiber' etwas zu suchen haben. 'Männer lesen anders' wäre ein alternativer Titelvorschlag. Dieselbe These im Gewande der Antithese. Die Synthese läßt einstweilen warten.

 

1 George Tabori, "Liebeserklärung. Dankrede", in 'Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1992', S. 134.
2 Zu einem ähnichen Schluß kommt Peter von Matt. Vgl. 'Frankfurter Anthologie', Band 10, Frankfurt 1986, S. 104 f.
3 Allerdings lesen Frauen überhaupt mehr Bücher als Männer, besonders im belletristischen Bereich. Vgl. Christine Garbe, "Frauen - das lesende Geschlecht?" in: 'Frauen lesen. Literatur und Erfahrung', 26/27, September 1993, S. 7-34.
4 Ruth Klüger, "weiter leben. Eine Jugend", dtv 11950, S. 82.
5 Von diesem Standpunkt wäre eventuell auch Gert Hofmanns Lichtenberg-Roman 'Die kleine Stechardin', München 1994 zu untersuchen, der Lichtenbergs Beziehung zu einem minderjährigen Mädchen verarbeitet.
6 Vgl. martina Gilges, 'Lesewelten. Geschlechtspezifische Nutzung von Büchern bei Kindern und Erwachsenen', Bochum 1992.
7 Vgl. Susan Rabin Suleiman, "Pornography, Transgression and the Avant-Garde: Bataille's story of the Eye", in 'The Poetics of Gender', hrsg. Nancy K. Miller, New York 1986, S. 117-135, bes. S. 122-129.